Wolffsohn: Du sollst nicht morden
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Unser Grundsatz
Der Arbeitskreis respektiert die Rolle der Bundeswehr als Bestandteil der Verteidigung unserer demokratisch verfassten Gesellschaft auf der Basis des Grundgesetzes und des Völkerrechts.
Wir begleiten kritisch die Politik hinsichtlich des Auftrags der Streitkräfte, deren Bindung an Moral und Gesetze, die Umsetzung des Staatsbürgers in Uniform sowie nichtmilitärische Alternativen der Konfliktbewältigung.
Mit seinem Beitrag zur Diskussion um den Traditionserlass der Bundeswehr fordert Prof. Dr. Michael Wolffsohn einen Ethik-Kodex für die Bundeswehr. Es handelt sich um die schriftliche Fassung eines Vortrags vor der Bundeswehr-Spitze und Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen in Potsdam. Mit freundlicher Genehmigung des Autors dürfen wir den Beitrag hier veröffentlichen.
Das fünfte beziehungsweise sechste der Zehn Gebote (je nach Zählung) wird in der Regel so übersetzt: „Du sollst nicht töten.“ Korrekt aus dem Hebräischen übertragen lautet es: „Du sollst nicht morden.“
Was hat das fünfte Gebot mit dem Vorhaben zu tun, den sogenannten Traditionserlass der Bundeswehr neu zu formulieren?
Antwort beziehungsweise Gedanke 1: Wenn Tradition als zeitloser oder zumindest weit über den Tag hinaus geltender moralischer Kompass dienen soll, dann muss die für jeden Menschen – Zivilisten wie Soldaten– überall und immer zu stellende ethische Fundamentalfrage beantwortet werden: „Darf ich töten?“ Da Soldaten der Bundeswehr tatsächlich oder vermeintlich „Bürger in Uniform“ sind, stellt sich diese Frage für Bundeswehrsoldaten ganz besonders.
Sind Soldaten einer Bundeswehr ohne allgemeine Wehrpflicht tatsächlich noch „Bürger in Uniform? Noch grundsätzlicher gefragt: Sind Soldaten jedweder Berufsarmee Bürger in Uniform? Diese Frage ist von größter Bedeutung für die gegenwärtige Bundeswehr. Denn strukturell ist keine Berufsarmee ein „Spiegel der Gesellschaft“.
Nicht nur die Soziologie der Bundeswehr, auch die Militärgeschichte belegt eindeutig: In jeder Berufsarmee findet sich aus wirtschaftlichen, psychologischen oder politischen Gründen nur ein quantitativ und vor allem qualitativ-ideologisch kleiner Teil der Bürgerschaft zusammen. In jeder Berufsarmee der Welt fehlt die Breite des allgemeingesellschaftlichen und -politischen Bürgerschaftsspektrums. Jede Berufsarmee zieht überall und immer nur bestimme Teile der Bürgerschaft beziehungsweise des Volkes an. Überspitzt formuliert: Lyriker, Moralphilosophen oder Theologen werden selten Berufssoldaten.
Auch ohne Lyriker, Moralphilosophen oder Theologen kann die Ethik einer Streitkraft intakt bleiben. Nicht jedoch, wenn dieser Satz gilt: „Weil du arm bist, musst du zum Militär.“ So war es fast immer, wo und wenn es keine allgemeine Wehrpflicht gab – also fast immer in der Militär-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Das war, ist und bleibt zutiefst unethisch. Daraus folgt: Die Ethik des Militärs hängt mit der allgemeinen Ethik der Gesellschaft unauflöslich zusammen. Wenn sich die Gesellschaft dem Militär verweigert, schafft sie von sich aus das Militär als Staat im Staate.
In der gesamten Bürgerschaft einer Demokratie erfolgt die wechselseitige politische und ethische Kontrolle durch den ständigen und öffentlichen Wettbewerb der Ideen und Wertvorstellungen auf dem „politischen Markt“. Wo nur ein Teil der Bürgerschaft vertreten ist, entfällt automatisch die Kontrolle durch die Gesamtheit. Eine solche Institution bleibt in sich geschlossen und damit weitgehend der bürgerschaftlichen Gesamtheit verschlossen – also auch dem Wettbewerb der Wertevorstellungen. Interne Mängel gelangen nicht nach außen. So wird die Berufsarmee einer offenen Gesellschaft zur geschlossenen Teilgesellschaft.
Daraus folgt: Wo die gesamtgesellschaftliche Kritik entfällt, gibt es – bestenfalls – nur teilgesellschaftliche und noch seltener Selbstkritik. Beide sind in einer Demokratie unabdingbare Faktoren auch des ethischen Regulierens und Korrigierens.
Daraus wiederum folgt noch Beängstigenderes: Anders als bei einer Streitkraft, der die allgemeine Wehrpflicht zugrunde liegt, besteht bei einer Berufsarmee strukturell die Gefahr, dass diese ein „Staat im Staat“ wird. Womit wir beim Gespenst von Weimar wären. Damals war die Reichswehr faktisch ein Staat im Staat. Genau jenes Gespenst von Weimar wollte die Bonner und will die Berliner Republik durch das Ideal des Bürgers in Uniform vertreiben und verhindern. Ungewollt und naiv wurde durch den Übergang von der Bürger- zur Berufsarmee die Rückkehr jenes Gespenstes strukturell erleichtert.
Daraus folgt unabdingbar: Notwendiger denn je ist in der Bundeswehr (wie in jeder Berufsarmee der Welt) ein allgemeiner, von der Politik vorgegebener, aus der gesellschaftlichen Diskussion abgeleiteter Ethik-Kodex. Dieser muss auch – doch eben nicht nur – die deutsche Militärtradition thematisieren.
Wenn ich als Zivilist eine Person töte, handelt es sich in der Regel um einen Mord. Als Soldat wird mir vom Staat A das Töten von Soldaten des Staates B befohlen, und es ist kein Mord. Warum? Das muss ein Traditionspaket, das diesen Namen verdient, erklären. Eine, wenn nicht gar „die“ Erklärung bietet eben das fünfte beziehungsweise sechste der Zehn Gebote, das Mordverbot. Diese Gebote, hören wir ständig, seien das Ethik-Fundament des (chronologisch) jüdisch-christlichen Erbes.
„Morde nicht“ heißt zugleich unausgesprochen: In Ausnahmefällen, wohlgemerkt, in Ausnahmefällen darfst du töten, sprich: das Leben von Menschen beenden. Was sind die Ausnahmen? Es ist genau genommen nur eine: die Überlebensnotwendigkeit. Wenn A mich töten will, und nur dann, dann darf ich ihn sogar vorwegnehmend töten. Aus beiden Teilgedanken schließen wir erstens: Töten ist eben nicht Morden oder, mit Albert Camus (in „Der Belagerungszustand“): „Man muss (manchmal; M.W.) töten, um den Mord abzuschaffen. Gewalt tun, um das Unrecht zu beseitigen.“
Zweitens, bezogen auf Soldaten: Im Notfall (und nur der gilt für demokratische Staaten und Menschen, die diese Bezeichnung verdienen), im Notfall sind tötende Soldaten eben keine Mörder.
Das ist die Regel. Ausnahmen müssen erkannt und benannt werden.
Ich nenne eine: Die Wehrmacht beging zahlreiche Verbrechen. Daher ist das Bundeswehr-Axiom, das besagt, die Wehrmacht sei als Institution „für die Bundeswehr nicht traditionswürdig“, ethisch absolut unersetzlich. Funktional, sprich: kriegshandwerklich ist dieses Axiom völlig unrealistisch. Weltweit studieren Militärs nicht nur die Blitzkriegstrategie der Wehrmacht, sondern auch zahlreiche taktische Aktionen.
Ja, die Wehrmacht war die Exekutive eines Verbrecherregimes. Doch wahrlich nicht jeder Wehrmachtssoldat war ein Verbrecher, und machen wir uns nichts vor, rein „kriegshandwerklich“ beziehungsweise soldatisch betrachtet, es gab unter den vielen Wehrmachtsmördern vorzügliche Soldaten. Nie und nimmer sollen oder dürfen sie Vorbilder unserer zivilisatorisch, humanen Streitkraft sein.
Unbestreitbar war nicht jeder Wehrmachtssoldat ein Mörder, aber, ebenfalls unbestreitbar, war er zugleich Instrument eines Mordregimes. Wie die zentralen Akteure der griechischen Tragödie wurden diese Wehrmachtssoldaten schuldlos schuldig. Das ist ihre je individuelle Tragik.
Ganz anders als die Soldaten der Wehrmacht handeln Bundeswehrsoldaten im Auftrag eines Staates, in dem die Fundamente der jüdisch-christlichen Ethik, die Menschen- und Bürgerrechte und nicht zuletzt das Grundgesetz gelten. Das Dritte Reich war eine Massenmord-Diktatur. Sie mordete Millionen Deutsche und Nichtdeutsche. Die Bundesrepublik Deutschland ist nicht das Paradies auf Erden, aber ganz gewiss ein freiheitlich-demokratischer Rechtsstaat.
Gedanke 2 befasst sich mit der Frage: Ist der Kampf beziehungsweise der Krieg, den ich als Soldat führen muss, gerecht? Antworten hierauf füllen Bibliotheken, aber den Verfassern eines neuen Traditionserlasses der bundesdeutsch-demokratischen Streitkraft sollte die Bequemlichkeit einer diesbezüglichen ethischen Drückebergerei nicht gestattet werden.
Ich wage ohne redaktionelle Feinarbeit eine Rohformulierung: Soldaten der Bundeswehr begeben sich in Gefahr und manchmal sogar in Lebensgefahr, damit weltweit Menschlichkeit obsiegt. Wenn sie – vom demokratisch gewählten, auf dem Boden des Grundgesetzes entscheidenden Parlament sowie der von ihm getragenen Regierung – in den Kampf geschickt werden und dabei andere töten müssen, dann nur für Menschlichkeit. Für Menschlichkeit und immer gegen Menschen, die anderen Menschen das existentielle sowie das selbstbestimmte Lebens- und Glücksrecht, kurzum: individuell oder kollektiv Menschlichkeit gewaltsam verweigern.
Krieg ist allgemeinethisch ebenso wie für die Bundeswehr Entsetzliches, weil Menschen Menschen töten. Er darf nur geführt werden, um noch Entsetzlicheres zu verhindern oder zu beenden, nämlich noch mehr und länger Töten.
Gedanke 3: Die beiden vorgetragenen Gedanken sind aus meiner Sicht durch nichts zu ersetzen. Sie prüfen nicht die Moral von General A oder B, gleich, aus welcher Epoche. Seien es die preußischen Militär-Reformer, -Restauratoren, Soldaten des Kaiserreichs, der Wehrmacht, Bundeswehr oder auch der Nationalen Volksarmee der DDR. Sie führen weit über Fragen der Tradition hinaus zur Basis-Ethik.
Daraus folgt: Statt eines neuen Traditionserlasses oder zumindest zusätzlich zu ihm braucht die Bundeswehr des seit 1990 vereinten Deutschlands einen Ethik-Kodex beziehungsweise einen Ethik-Kompass.
Gedanke 4: In einer Berufsarmee ist ein solcher Kodex noch wichtiger als in einer Wehrpflichtigenarmee. Ein „Staat im Staat“ wäre nicht hinnehmbar. Es gilt nicht nur der Primat der Politik und des Zivilen, sondern auch des Zivilisatorischen, also des Humanum.
Gedanke 5: Der künftige Ethik-Kodex muss verdeutlichen, dass der Primat des Politischen beziehungsweise des Zivilen keineswegs automatisch zivilisatorisches Denken und Handeln bedeutet. Ein Beleg von vielen ist das NS-Reich. Oder gab es dort und damals etwa das Primat des Militärischen?
Gedanke 6: Ein Ethik-Kodex der Bundeswehr sollte – ohne zum Geschichtsbuch auszuufern– gerade Berufssoldaten verdeutlichen, dass militärisch Vernünftiges politischer Selbstmord und damit Grundstein einer militärischen Niederlage sein kann. Beispiele: Die Anwendung des Schlieffenplans war im Ersten Weltkrieg rein militärisch geradezu genial und politisch eine Katastrophe, denn sie musste unweigerlich zum Kriegseintritt Großbritanniens führen. Gleiches gilt für das Flottenprogramm seit 1898, den unbeschränkten U-Boot-Krieg von 1917 an oder die von Staatssekretär Zimmermann und anderen erwogene Mexiko-Front gegen die Vereinigten Staaten. Militärisch überzeugend, politisch tölpelhaft. Militärökonomisch, scheinrational sinnvoll war zur Jahreswende 1870/71 gewiss die Belagerung von Paris durch den alten Moltke oder 1941 bis 1943 Hitlers Belagerung von Leningrad, an der auch der spätere Verteidigungsminister und Bundeskanzler Helmut Schmidt beteiligt war. Jenseits der (Un-)Moral waren diese beiden Aushungerungsblockaden fakt-rational und politisch fatal, denn sie erzeugten Rachegefühle und später Rachehandlungen gegen das deutsche Militär und Zivilisten.
Gedanke 7: Menschliche Vorbilder sind wichtig, vielleicht sogar unerlässlich. Aber sie sind Menschen, also wie jeder Mensch fehlbar, fehlerhaft und, ja, auch mit Makeln behaftet. Ich rede nicht nur von den vielen vorbildlichen Soldaten, sondern auch von dem einen oder anderen Widerstandshelden gegen die NS-Verbrecher. Von diesen komme ich wieder zurück auf das Urdokument der jüdisch-christlichen Kultur, die Bibel.
Sie ist nicht nur Weltliteratur, sondern konfrontiert auch Nichtgläubige, gerade durch die vielschichtigen, eben nicht Schwarz-Weiß-Darstellungen mit Fragen der Fundamentalethik. Ich meine nicht nur das auf vermeintlich Sündenfreie gemünzte jesuanische Diktum „… der werfe den ersten Stein“, sondern vor allem die Messiasvorstellung. Sowohl Christen als auch Juden sagen: Der Messias stamme aus dem Hause David. Das bedeutet: Edler als David geht nicht.
Doch wer oder was war dieser biblische David? Jenseits seiner politischen und ethischen Größe war David zum Beispiel auch ein knallharter Räuberhauptmann und Ehebrecher. Mehr noch: Den gehörnten Ehemann der Batseba schickte er an die Kriegsfront und damit in den Tod. Davids Sohn und Nachfolger, Salomon, war also, wie es Religiöse zu sagen pflegen, „in Sünde gezeugt“. Daraus folgt: Trotz und nach der Sünde, so die Bibel, leistete David Sühne. Nichts war ungeschehen, aber eben gesühnt.
Daraus folgt für unser Thema: Selbst der eine oder andere Widerstandskämpfer gegen die NS-Verbrecher war an Kriegsverbrechen oder als Mitläufer und Mitmacher beteiligt, aber der Widerstand war seine Sühne.
Daraus folgt: Wenn „das“ Ideal christlich-jüdischer Vorstellungen, also der Messias, aus dem (unausgesprochen: vorbildlichen) Hause David kommen soll oder gekommen sei, können und dürfen wir auch so oder anders vorbelastete Widerstandskämpfer als Vorbilder bestimmen. Allerdings müssen erst recht wir das begründen und thematisieren.
Daraus folgt Gedanke 8: Nicht das ganze Leben eines Soldaten oder anderer Menschen ist Vorbild, sondern nur die eine oder andere Lebenssituation, der eine oder andere Lebensabschnitt.
Wer dieses Realbild vom Menschen an sich nicht erkennt und benennt, erzeugt, obwohl das Idealbild anstrebend, nur Zerrbilder und keine Vorbilder.
Gedanke 9: Traurig, wahr und funktional unvermeidlich: Wie in allen Institutionen der frühen Bundesrepublik und der DDR gab es in der frühen Bundeswehr wie in der NVA NS-belastete Personen.
„Der Alte“, Konrad Adenauer, dieser Realist und geniale Vereinfacher, hat es 1952 auf den Punkt gebracht: „Man schüttet kein dreckiges Wasser aus, wenn man kein reines hat!“ Über die nachkriegsdeutsche Alternativlosigkeit der Personalpolitik sagte er auch dies: „Nehmen Se de Menschen wie sie sind. Andere jibt et nich.“ Die frühe BRD und die frühe DDR mussten die nehmen, die es gab. Ohne sie war – leider und zugleich wörtlich– kein Staat, auch keine Bundeswehr und keine NVA zu machen. Die wenigen wirklichen Widerständler und Weißen in brauner Zeit konnte man nur mit der Lupe finden.
Dabei war in der Bundeswehr die Schamschwelle für belastete Personen durch den Personalgutachterausschuss deutlich schwerer zu überschreiten als in den meisten übrigen Institutionen der frühen Bundesrepublik, von der frühen DDR ganz zu schweigen.
Warum nur über Militär und Politik der frühen Bundesrepublik reden? So manche „moralische Instanz“ unserer Bundesrepublik hatte in dunkeldeutschen Zeiten ebenfalls wenig oder nichts Helles zu bieten: Ich nenne Günter Grass, der nicht fremdbestimmt in die Waffen-SS gespült wurde. Der vermeintlich große Liberale der bundesdeutschen Historikerzunft, Theodor Schieder, hat im Dritten Reich Unsägliches geschrieben, was seine dankbaren Schüler, allesamt wohlbekannte, makellose Demokraten, aus Dankbarkeit, Feigheit oder Opportunismus bis in die späten 1980er Jahre verschwiegen. Die NSDAP-Mitgliedschaft des Zeithistorikers Martin Broszat, des Schriftstellers Siegfried Lenz oder des Kabarettisten Dieter Hildebrandt und, und, und hat auch nicht der Klapperstorch in die frühbundesdeutsche Wiege gelegt.
Das Wunder der Bundesrepublik und auch der Bundeswehr besteht doch gerade darin, dass einst belastete Personen (es gab freilich auch Unbelastete, aber das war eben nicht die Mehrheit) das Neue am neuen, wirklich demokratischen und menschlichen Deutschland mitaufgebaut und später vielleicht sogar verinnerlicht haben. Die Mehrheit ihrer Kinder und Kindeskinder hat dieses Neue, Menschliche gewiss verinnerlicht.
Gedanke 10: Demokratie, also die „Herrschaft des Volkes durch und für das Volk“, ist ohne Teilhabe, sprich: Partizipation der Bürger ohne und mit Uniform undenkbar. In der Arbeitswelt, erst recht der militärischen, herrscht der Funktion wegen eher das Prinzip von Anweisung, Vorschrift, ja Befehl und Gehorsam, letztlich Subordination. Dieses Spannungsverhältnis von Bürgerwelt und Arbeitswelt, militärisch oder zivil, muss ein Ethik-Kodex ebenfalls erklären.
Der Gedanke an Partizipation führt zu (noch?) einer ketzerischen Überlegung: Kann man Tradition erlassen, also amtlich, wie 1965 Kai-Uwe von Hassel (CDU) und 1982 Hans Apel (SPD) verkünden? Ist ein solcher Minister-„Erlass“ nicht gegen die Zeit und aus der Zeit beziehungsweise anachronistisch, ja, geradezu obrigkeitsstaatlich?
Gedanke 11 ergänzt den zehnten: Befehl und Gehorsam sind im Militär, Anweisung und Ausführung im Zivilbereich funktional unabdingbar. Doch ohne Widerspruch keine Fehlerkorrektur, und ohne das Widerstandsrecht im und gegen ein Unrechtsregime brechen wir die westliche und die jüdisch-christliche Ethiktradition. Fast jeder biblische König Israels und Judäas verstieß gegen die Basis-Ethik. Dessen Tod von fremder Hand galt eben nicht als Mord, weil er das getan hatte, was die Bibel „das Unrechte in den Augen Gottes“ nennt. Wir Weltlich-Modernen würden sagen: Es waren Tyrannen. Und Tyrannen-Tötung entspricht westlich-weltlicher Ethik.
Weil die Bundeswehr die Streitkraft eines demokratischen Staates ist, entfällt jedem Zivil und Militär das Recht auf Widerstand. Widerspruch als Fehlerkorrektiv muss möglich sein. Auch das muss ein Ethik-Kodex leicht verständlich erklären.
Gedanke 12: Er überschreitet das jüdisch-christliche Erbe und erweitert es neudemographisch sowie zeithistorisch um das islamische. Manche sagen: „Der Islam gehört zu Deutschland.“ Andere sagen nein. Das ist also umstritten. Unbestreitbar ist jedoch, dass in Deutschland und Westeuropa eine ständig wachsende islamische Bevölkerung dauerhaft bleibt, teils auch in der Bundeswehr dient, und dass, national sowie global betrachtet, Religion, vor allem der Islam, woanders auch Christentum, Judentum, Buddhismus und Hinduismus, politische Faktoren sind.
Für Deutschland und die Bundeswehr gilt grundsätzlich die Trennung von Politik und Religion. Daraus folgt: Für die Berliner Republik und damit für die neue Bundeswehr gibt es durchaus Kriege als Ultima Ratio, aber nie und nimmer einen „Heiligen Krieg“. „Heilige Krieger“ oder Gedanken an Heilige Kriege haben in der Bundeswehr keinen Platz. Für Menschlichkeit in der Staatenwelt und nicht für einen oder den Gottesstaat kämpft die Bundeswehr, wenn sie kämpfen muss.
Man kann sich freilich alles auch ganz einfach machen. Der pensionierte niederländische Generalleutnant van Loon sagte während eines ersten „Workshops“ über den neuen Traditionserlass schlicht und simpel: Tradition sei einfach ein wesentlicher Bestandteil des „esprit de corps“ der Soldaten. Sie sei notwendig, um überhaupt in den Kampf ziehen zu können und sich als Einheit zu begreifen. Denn in der Schlacht stürben die Soldaten ja nicht für das Vaterland oder für höhere Ziele, sondern für den Kameraden neben ihnen.
Van Loon hatte auch einen persönlichen Rat an die deutsche Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen den er öffentlich verkündete: Natürlich könne es im Gewand der Traditionspflege immer zu historischen Missbräuchen kommen. Aber da empfehle er Gelassenheit, eine Tasse Tee und die Erinnerung an wichtige militärische Leistungen und kühne militärische Führer – er nannte die Namen Blücher und Rommel.
Ich trinke gerne Tee, aber für zivile sowie militärische Fundamentalethik und Tradition reicht eine Teerunde nicht.
Bild: paris-peace_by-flickr-usr_puffer703_underCC-License
Veröffentlicht von mwengelke am Freitag, Januar 5th, 2018 @ 11:52AM
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