Gibt es Chancen für eine friedliche Lösung?
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Unser Grundsatz
Der Arbeitskreis respektiert die Rolle der Bundeswehr als Bestandteil der Verteidigung unserer demokratisch verfassten Gesellschaft auf der Basis des Grundgesetzes und des Völkerrechts.
Wir begleiten kritisch die Politik hinsichtlich des Auftrags der Streitkräfte, deren Bindung an Moral und Gesetze, die Umsetzung des Staatsbürgers in Uniform sowie nichtmilitärische Alternativen der Konfliktbewältigung.
Ein Text zu geopolitischen Aspekten des Konfliktes von Ulrich Frey, Vorstandsmitglied des Förderkreises Darmstädter Signal.
Frieden in der Krise Ukraine – Russland: Gibt es Chancen für eine friedliche Lösung?
Der Konflikt um die Ukraine ist geopolitischer Natur zwischen den USA/ Westeuropa einerseits und Russland andererseits. Zu seiner Lösung braucht es eine neue Politik der „gemeinsamen Sicherheit“ und ein System kollektiver Sicherheit in Europa als Ergebnis einer neuen Friedens- und Sicherheitspolitik in Europa. Ausgangspunkt bleibt die Umsetzung des Abkommens vom 12.2.2015 von Minsk (Minsk II) zwischen Russland, Frankreich, Deutschland, der Ukraine und Separatistenführern zwecks Deeskalation und Befriedung.[2]
1. Gemeinsame Sicherheit
Das Leitbild der „gemeinsamen Sicherheit“ wurde im Kalten Krieg zwischen dem (östlichen) Warschauer Pakt und den (westlichen) Mitgliedern der NATO durch die „Unabhängige Kommission für Abrüstung und Sicherheit“ (Palme-Kommission) 1980 – 1982 [3] zur Überwindung der nuklearen Abschreckungsdoktrin entwickelt. Angesichts anhaltender atomarer Rüstung und wachsender militärischer und ökonomischer Spannungen u.a. zwischen Russland und westlichen Staaten zur Ukraine sowie im Nahen Osten zu Syrien ist dieser Ansatz wieder hochaktuell. An dem Konzept der „gemeinsamen Sicherheit“ hatten unter der Leitung des schwedischen Ministerpräsidenten Olof Palme neunzehn wichtige Politiker und Fachleute aus Ost und West, Nord und Süd, unter ihnen der frühere Abrüstungsminister und Abrüstungsexperte Egon Bahr, mitgewirkt. Das Konzept der “gemeinsamen Sicherheit“ bedeutet: „In der heutigen Zeit kann Sicherheit nicht einseitig erlangt werden. Wir leben in einer Welt, deren ökonomische, politische, kulturelle und vor allem militärische Strukturen im zunehmenden Maße voneinander abhängig sind. Die Sicherheit der eigenen Nation lässt sich nicht auf Kosten anderer Nationen erkaufen.“[4]
Wichtige Merkmale einer „gemeinsamen Sicherheit“ sind die Akzeptanz der gegenseitigen Abhängigkeit (Interdependenz), eine gemeinsame Verantwortung und die Einsicht, dass Sicherheit auf Dauer nur mit, und nicht gegen den Konfliktpartner möglich ist. Das Konzept hat im Kalten Krieg praktisch-politisch zur Entspannung im Verhältnis Ost-West beigetragen. Es hat der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit (KSZE) (1975) zum Erfolg verholfen und wirkt als Grundlage der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) fort. Die Friedensbewegung hat es gefordert. Der Vertrag von Lissabon der Europäischen Union (2007) unterstützt es.[5]
2. Deutsche Außen- und Sicherheitspolitik muss sich, wenn sie erfolgreich sein will, in ein System kollektiver Sicherheit in Europa einordnen.
Die Vorstellung einer „gemeinsamen Sicherheit“ ist aus dem Konzept der “kollektiven Sicherheit“ entstanden. Das völkerrechtlich bedeutsame Konzept der „kollektiven Sicherheit“ findet sich in der UN-Charta und in Art. 24 Abs. 2 GG [6] wieder. Die „kollektive Sicherheit“ bezeichnet ein rechts- und politikwissenschaftlich gestütztes System von Sicherheit, das Staaten miteinander zu ihrer inneren Sicherheit untereinander vereinbaren. Ein universales Sicherheitssystem dieser Art ist in den Vereinten Nationen und dem Völkerbund angelegt, aber im Falle der Vereinten Nationen wegen der Blockade durch Mitgliedstaaten nicht realisiert worden. Idealerweise versprechen sich die Mitglieder eines Systems der „kollektiven Sicherheit“, die alle gleiche Rechte und Pflichten haben, gegenseitig den Schutz vor jeder zwischenstaatlichen Aggression. Wenn dieses System von außen angegriffen wird, soll es sich gemeinsam wehren können und kann nur in dieser Funktion abschreckende Wirkung entfalten. Im Gegensatz dazu ist ein System der „kollektiven Verteidigung“ wie das der NATO nach Art. 5 des NATO-Vertrages [7] oder des früheren Warschauer Paktes ein militärisches Zweckbündnis von mehreren Staaten gegen eine Aggression von außen durch gegenseitige Hilfeleistung und Abschreckung.
Das Konzept der „kollektiven Sicherheit“ als System der Sicherheit nach innen entspricht dem „Friedensgebot des Grundgesetzes“, welches der Richter am Bundesverfassungsgericht Helmut Simon im Grundgesetz angelegt sieht. Es ergibt sich aus neun Regelungskomplexen des Grundgesetzes [8], u.a. aus der Präambel des Grundgesetzes [9], Art. 1 Abs. 2 (Menschenrechte, Frieden, Gerechtigkeit), Art. 20 Abs. 3 (Bindung der Gesetzgebung an Verfassung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung an Gesetz und Recht), Art. 26 Abs. 1 Satz 1 (Verbot des Angriffskrieges).
Das Bundesverfassungsgericht hat das Konzept der „gemeinsamen Sicherheit“ durch sein umstrittenes Urteil zum Einsatz der Bundeswehr out of area vom 12.7.1994 (BvE 3/92) auf die NATO angewandt und diese als ein „System gegenseitiger kollektiver Sicherheit“ qualifiziert, indem es die grundsätzliche Differenz zwischen kollektiver Sicherheit nach Art. 24 Abs. 2 GG und kollektiver Verteidigung nach Art. 87a GG [10] für „unerheblich“ befand. [11]
Die Perspektive einer „kollektiven Sicherheit“ ist derzeit nicht sichtbar, weil die in der NATO verbündeten Staaten, auch die in Europa, sich systematisch im Sinne der „kollektiven Verteidigung“ gegen Russland wenden und Russland nicht pro-akiv in eine gemeinsame Sicherheitspolitik einbeziehen.[12] Auf ein System kollektiver Sicherheit in Europa dagegen ließ die Charta von Paris vom 21.11.1990 hoffen. Die Charta wurde von West und Ost nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten und dem Ende des Kalten Krieges ausgehandelt. Europa sollte ein gemeinsames Haus werden: „Das Zeitalter der Konfrontation und der Teilung Europas ist zu Ende gegangen. Wir erklären, dass sich unsere Beziehungen künftig auf Achtung und Zusammenarbeit gründen werden… Sicherheit ist unteilbar, und die Sicherheit jedes Teilnehmerstaates ist untrennbar mit der aller anderen verbunden. Wir verpflichten uns daher, bei der Festigung von Vertrauen und Sicherheit untereinander sowie bei der Förderung der Rüstungskontrolle und Abrüstung zusammenzuarbeiten. Bei all der reichen Vielfalt unserer Nationen sind wir vereint in der Verpflichtung, unsere Zusammenarbeit in allen Bereichen auszubauen. Die Herausforderungen, denen wir uns gegenüber sehen, können nur durch gemeinsames Handeln, Zusammenarbeit und Solidarität bewältigt werden.“[13]
Am Beispiel des Ukraine-Konfliktes wird deutlich, weshalb die Charta von Paris keine Folgen hatte. Zentral ist die Auseinandersetzung um die militärische Einbeziehung der Ukraine gegen die Sicherheitsinteressen Russlands in den Einflussbereich der NATO zwischen den USA und der EU einerseits und Russland andererseits. Im Jahre 1999 wurden Polen, Ungarn, Tschechien und 2004 die Slowakei, Bulgarien, Rumänien, Estland, Lettland, Litauen in die NATO aufgenommen. 2008 erhielten die Ukraine, Georgien und Moldawien die Option für eine spätere Mitgliedschaft in der NATO. Das geschah gegen das feste Versprechen des Westens im Februar 1990 durch Bundeskanzler Kohl und Außenminister Genscher sowie US-Außenminister Baker gegenüber Staatspräsident Gorbatschow und dessen Außenminister Schewardnadse, sich im Zuge der Vereinigung der deutschen Staaten nicht nach Osten auszudehnen.[14] Kronzeuge dafür war auch der damalige US-Botschafter in Moskau Matlock.[15] Der NATO-Russland-Rat, 1997 gegründet, wurde entweder gar nicht oder nur wenig für die gegenseitige Vertrauensbildung genutzt. Die völkerrechtliche Anerkennung der Republik Kosovo wurde von Russland als Präzedenzfall für die (völkerrechtswidrige) Annexion der Krim angesehen. Das geplante „Raketenabwehrprogramm“ in Osteuropa, das sich offiziell gegen den Iran richtet, wird von Russland als gegen sich gerichtet bewertet. Der völkerrechtswidrige Luftkrieg der NATO gegen Serbien/Montenegro 1999 war ein Verstoß gegen die UN-Charta und die KSZE/OSZE-Regelungen. Präsident Obama qualifizierte Russland als „Regionalmacht“. Bei der im Juni 2016 bevorstehenden NATO-Konferenz in Warschau könnte eine ständige stärkere militärische gegen Russland gewendete Präsenz der NATO in Mitteleuropa, z.B. in Polen, vereinbart werden.
Vor dieser Entwicklung hatten gewarnt bzw. dagegen argumentiert: Prof. John J. Mearsheimer (Politologe für internationale Politik an der Universität Chicago) [16], George F. Kennan [17] (Historiker, Botschafter der USA in Moskau und strategischer Denker im Kalten Krieg), der „Falke“ Zbigniew Brzezinski [18] (früherer außenpolitischer Berater), Wolfgang Ischinger [19] (früherer Staatssekretär im Auswärtigen Amt und jetzt Vorsitzender der Münchener Sicherheitskonferenz, Walther Stützle (Publizist, früherer Direktor des Stockholmer Internationalen Friedensforschungsinstitutes SIPRI und Staatssekretär im Verteidigungsministerium, Aufruf der 60 „Wieder Krieg in Europa? Nicht in unserem Namen!“, Henry Kissinger (ehemaliger US-Außenminister) und der Willy-Brandt-Kreis. Sie werten die Ausdehnung der NATO nach Osten als schweren Fehler gegen den Anspruch von Russland (Putin), auf Augenhöhe behandelt zu werden.
3. Nötig zur Wiederherstellung von „gemeinsamer Sicherheit“ ist eine neue Friedens- und Sicherheitspolitik, die in eine belastbare europäische Sicherheitsarchitektur zwischen den USA, Russland und der EU mündet und die die OSZE stärkt.
Nötig ist, ein neues Vertrauen in gemeinsames Handeln aufzubauen. Außenminister Steinmeier hat in einer Rede vor dem Zentrum für Strategische und Internationale Studien (CSIS) in Washington für „strategische Geduld“ im Umgang mir Russland geworben. Trotz des Ukraine-Konfliktes müsse sich der Westen darum bemühen, mit Moskau wieder zu einem „kooperativen Verhältnis“ zu kommen.[20] Ich folge der Einschätzung des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg, dass Russland einen Anspruch auf „ordnungspolitische Mitgestaltung“ hat, um sein berechtigtes Interesse an Sicherheit zu befriedigen und respektiert und anerkannt zu werden. Die zerrütteten Beziehungen zum Westen erfordern eine Deeskalation und vertrauensbildende Maßnahmen im Rahmen einer gestärkten Organisation für Zusammenarbeit und Entwicklung (OSZE). [21] Themen der tabu freien Debatte mit Russland sollten wichtige Themenfelder wie „die völkerrechtliche Interpretation von Schlüsselbegriffen wie Gewaltverbot, Souveränität und Selbstbestimmung, der Einbezug nicht-staatlicher Gewaltakteure in das Konfliktgeschehen, das Verhältnis von Staat und Zivilgesellschaften, die institutionelle Organisation von Frieden und Sicherheit in Europa sowie Fragen der wirtschaftlichen Integration und Abschottung sein.“ [22]
Ulrich Kühn, ebenfalls Mitarbeiter des ISFH in Hamburg, hält es für nötig, dass der Westen !selbstkritisch die bisherige und zukünftige NATO-Politik diskutiert und gemeinsam mit Russland über den Status und die Sicherheitsinteressen postsowjetischer Staaten wie der Ukraine, der Republik Moldau, Georgiens und Aserbaidschans nachdenkt …und rüstungskontrollpolitische Antworten für das schwierige NATO-Russland-Verhältnis“ [23] findet.
Die Forderung nach einer „neuen Entspannungspolitik für Europa“ des Aufrufes der 60 unter maßgeblicher Moderation von Walther Stützle [24] „Wieder Krieg in Europa? Nicht in unserem Namen!“ liegt auf der gleichen Linie. Schon 1990 nach dem Ende der Sowjetunion wurde zum Ausbau der Charta von Paris ein Sicherheitsrat für Europa vorgeschlagen, der jedoch nie eingerichtet wurde. Nötig ist Entspannung auf der „Grundlage gleicher Sicherheit“ für alle und mit allen gleichberechtigten, gegenseitig geachteten Partnern. „Die deutsche Regierung geht keinen Sonderweg, wenn sie in dieser verfahrenen Situation auch weiterhin zur Besonnenheit und zum Dialog mit Russland aufruft. Das Sicherheitsbedürfnis der Russen ist so legitim und so ausgeprägt wie das der Deutschen, der Polen, der Balten und der Ukrainer.“ [25]
Der Realpolitiker Henry A. Kissinger schlägt aktuell vor: a) Die Ukraine hat das Recht, ihre ökonomische und politische Assoziierung frei zu wählen. b) Kein Beitritt der Ukraine zur NATO, c) Die Ukraine sollte frei sein, jede Regierung zu bilden, die mit dem ausdrücklichen Willen des ukrainischen Volkes kompatibel ist. International solle die Ukraine eine Position einnehmen, die etwa mit der von Finnland vergleichbar ist. d) Die Annexion der Krim ist mit den Regeln der bestehenden Weltordnung inkompatibel. Zugleich sollten aber praktische Möglichkeiten des Miteinanders gesucht werden.[26]
Egon Bahr sagte am 26.3.2015 vor dem Deutsch-Russischen Forum: „Wir sollten uns darauf konzentrieren, zu Russland verlorenes Vertrauen wieder herzustellen. Diese Phase könnte man als ‚kooperative Existenz‘ bezeichnen. Dieses über die bloße Koexistenz hinausgehende Konzept gestattet den speziellen Ausbau unserer Zusammenarbeit. Das gilt auch für das Thema von Energielieferungen. Sie treffen die Interessen beider Seiten und fördern Stabilität in Europa.“ [27] In diese Richtung weist auch die von Konrad Raiser und Freunden ins Leben gerufene Initiative für eine neue Ostdenkschrift [28] die beim Kirchentag in Stuttgart am 6.6.2015 vorgestellt worden ist. Der frühere Außenminister Genscher fordert eine Rückbesinnung auf die Charta von Paris (1990) als Stabilisator für eine neue Weltordnung. [29]
Wie verhält sich die tatsächliche Politik der Bundesregierung dazu? Klaus Naumann (IFSH) konstatiert den politischen Willen einzelner Ministerien, stellt aber eine „schwankende interministerielle Beteiligung“ fest und zweifelt am Beispiel der Debatte um das Weißbuch 2016 an dem Willen zu einem „gesamtstaatlichen Ansatz“. Es gäbe keine Kohärenz der Ressorts auf Kabinettsebene, also keine „entsprechenden Strukturen, Hierarchien, Selbstbindungen und u.a. Führung.“[30]
Der Willy-Brandt-Kreis (Vorsitzender Friedrich W. Schorlemer) fordert einen Neustart der Beziehungen zu Russland im Interesse einer gemeinsamen europäischen Friedensordnung. Nötig sei ein dauerhafter Interessenausgleich durch Dialog und Verhandlungen, keine wirtschaftlichen Sanktionen, eine intakte Energieinfrastruktur, eine europäische Einbettung auf der Grundlage des Minsk II-Abkommens, Wiedereinbeziehung Russlands in den Kreis der G7, die Wiederbelebung des NATO-Russland-Rates, konstruktive Zusammenarbeit trotz Einverleibung der Krim, eine föderale Struktur für die Ukraine, keine Mitgliedschaft der Ukraine in der NATO, eine militärische Entflechtung, Nichtverbreitung und die Begrenzung von Waffenarsenalen und Truppen, keine Drohungen mit dem Einsatz von Atomwaffen, starke Beteiligung der Zivilgesellschaft.[31]
Analysten der Friedensbewegung wie der am 19.1.2016 verstorbene Prof. Andreas Buro gehen in dieselbe Richtung. Viele Autoren weisen auf die OSZE hin, die unterstützt und ausgebaut werden sollte. Große Hoffnungen werden auf die deutsche Präsidentschaft der OSZE 2016 gesetzt.
Diese Zitate zeigen auf, welche inhaltlichen politischen Möglichkeiten Einzelne, Initiativen, Gruppen und Kirchen haben, auf Außen- und Sicherheitspolitik Einfluss zu nehmen.
Als Resümee ist festzuhalten, dass eine sicherheitspolitische Architektur, wie sie noch 1990 in dem Bild vom „Haus Europa“ zum Ausdruck kam, nicht geglückt ist, sondern dass wir in nationalstaatliche oder gar nationalistische Gegensätze zurückgefallen sind. Prinzipien einer europäischen Sicherheitsordnung im Sinne der KSZE wie territoriale Integrität, staatliche Souveränität und der Nicht-Einsatz militärischer Gewalt sind verschüttet. Der Anspruch der „Friedensmacht Europa“, als Lehre aus dem 2. Weltkrieg, Gewalt zwischen Staaten in Europa zu verhindern, ist insoweit gescheitert.
Ulrich Kühn plädiert für eine neue europäische Sicherheitsarchitektur: „Russland ist eine Macht, die sich am „Status quo“ orientiert und die Erhaltung desselben als Handlungsmaxime sieht. Dies mag, grade angesichts der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim und der fortgesetzten Destabilisierung der Ost-Ukraine, zunächst absurd klingen. Dabei entspricht Russlands Vorgehen in der Ukraine genau dem Kurs, den Moskau seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion immer verfolgt hat: Wahrung des russischen Einflusses in den ehemaligen Sowjetrepubliken – dem „nahen Ausland“- und gleichzeitige Verhinderung der fortgesetzten NATO-Ost-Erweiterung. Diese außen- und sicherheitspolitischen Prioritäten haben sich seither nicht geändert; die Strategien zur Durchsetzung der russischen Interessen hingegen schon. Vielen westlichen Sicherheitsexperten sind die Strategie-Wenden Russlands verborgen geblieben. Sie müssen nun Antworten auf die veränderte europäische Sicherheitslage finden. Vor dem Hintergrund der erneuten NATO-Russland-Konfrontation wird es dabei zunehmend schwieriger, die Instrumente kooperativer Sicherheitspolitik zu bewahren. Die kommenden Jahre werden zeigen, ob es gemeinsam gelingt, die europäische Sicherheitsarchitektur neu zu beleben.[32]
Bad Honnef, 3.3.2016, Ulrich Frey (Kontakt: ulrich.frey@web.de)
[2] Das Abkommen von Minsk realisiert den Anspruch, zu einer friedlichen Konfliktreglung beizutragen. Es enthält 13 Punkte, u.a. Waffenruhe, die Einrichtung einer Pufferzone, Gefangenenaustausch, Überwachung der Front durch die OSZE, Autonomieregelungen für die Ostukraine, Rückzug von Waffen und die Amnestie von Straftätern.
[3] Vgl. Dieter Deiseroth, Das Friedensgebot des Grundgesetzes und der UN-Charta – und die Bundeswehr?, Schleswig-Holsteinische Anzeigen. Justizministerialblatt von Schleswig-Holstein Nr: 11, Teil A, November 2014; S. 423-432, S. 430, www. ialana.de/files (Zugriff 6.1.2016)
[4] Zitiert nach Deiseroth aaO, Anmerkung 26, aus dem Palme-Bericht: „Common Security: A Blueprint for Survival“, 1982; Egon Bahr/Dieter S. Lutz (Hg.), Gemeinsame Sicherheit, 3 Bände, Baden-Baden, 1986 und 1987
[5] Art. 2 EU-Vertrag (EUV): „Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.“ Art. 3 (1): „Ziel der Union ist es, den Frieden, ihre Werte und das Wohlergehen ihrer Völker zu fördern.“ Art. 3 (2): „Die Union bietet ihren Bürgerinnen und Bürgern einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ohne Binnengrenzen ….“
[6] Art. 24 (2) lautet: „Der Bund kann sich zur Wahrung des Friedens einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einordnen; er wird hierbei in die Beschränkung seiner Hoheitsrechte einwilligen, die eine friedliche und dauerhaft Ordnung in Europa und zwischen den Völkern der Welt herbeiführen und sichern.“
[7] Die NATO hat ihren Charakter nach dem Ende der Sowjetunion zu einem politischen Bündnis im euro-atlantischen Raum gewandelt.
[8] Vgl. Deiseroth aaO, S. 426 ff
[9] „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben.“
[10] Art. 87a (1) Satz 1 GG: „Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf.“ Absatz (2): „Außer zur Verteidigung dürfen die Streitkräfte nur eingesetzt werden, soweit dieses Grundgesetz es ausdrücklich zulässt.“
[11] Vgl. Deiseroth aaO, S
[12] Der „Tagesspiegel“ meldet unter dem 2.2.2016, angesichts der Spannungen mit Russland vervierfachten die USA die finanziellen Mittel für ihre Streitkräfte auf 3,4 Milliarden Dollar gegenüber dem Vorjahr, um der „russischen Aggression“ entgegenzutreten und seine Präsenz in Osteuropa zu verstärken. Verteidigungsminister Carter: „Wir verstärken uns in Europa, um unsere NATO-Verbündeten angesichts der russischen Aggression zu unterstützen“ (http://www.tagesspiegel.de/politik/us-militaer-erhoeht-mittel-mehr-soldaten-und-waffen-gegen-russland/12911492.html (Zugriff 4.2.2016).
[13] Zitiert nach Deiseroth aaO, S. 431
[14] Vgl. Deiseroth, S. 430, Anmerkung 28
[15] Andreas Zumach, Globales Chaos, machtlose UNO, 2015, Rotpunktverlag S. 52
[16] www.foreignaffairs.com/print/138884, September/Oktober 2014: Mearsheimer meint, die Ukraine sei (als blockfreier Staat) als Puffer für Russlands Sicherheitsbedürfnis „unabdingbar“. Die politischen Fehler führt Mearsheimer auf den Mangel an politischem Realismus zurück. Der einzige sinnvolle Weg aus der Krise sei, die Sicherheitsinteressen Russlands nüchtern einzukalkulieren. Die Ukraine müsse die Rolle des Puffers oder der Brücke akzeptieren, die ihr durch ihre geostrategische Situation vorgegeben sei. Alles andere sei abstrakt und realpolitisch bedeutungslos. Die konstruktive Zusammenarbeit des Westens mit Russland sei zur Lösung wichtiger bestehender und anstehender Probleme von großer Bedeutung und sollte nicht aufs Spiel gesetzt werden.
[17] New York Times 5.2.1997: Kennan hatte die Regierung Clinton davor gewarnt, die NATO bis an die Grenzen Russlands zu erweitern. Das wäre der verhängnisvollste Fehler der amerikanischen Politik in der Ära nach dem Kalten Krieg wäre („expanding NATO would be the most fateful error of American policy in the entire post-cold war era.“) „Diese Entscheidung muss erwarten lassen, dass die nationalistischen, antiwestlichen und militaristischen Tendenzen in der Meinung Russlands entzündet werden; dass sie einen schädlichen Einfluss auf die Entwicklung der Demokratie in Russland haben, dass sie die Atmosphäre des Kalten Krieges in den Beziehungen zwischen Osten und Westen wiederherstellen und die russische Außenpolitik in Richtungen zwingen, die uns entschieden missfallen werden.“
[18] http://csis.org/files/publication/150318_Brzezinski_Remarks.pdf: Seiner Auffassung nach sollen die USA Russland zusichern, dass die Ukraine nicht in die NATO aufgenommen wird. Der Grund sei ganz einfach die geografische Nachbarschaft der Ukraine und Russlands.
[19] Wolfgang Ischinger, Gastkommentar: Die internationale Bedrohung. Handelsblatt 24.10.2014, S. 80. Ischinger sieht die Ukraine-Krise in einem weltpolitischen Zusammenhang: a) Wenn die europäische Sicherheitsarchitektur zusammenbricht, ist auch die in anderen, weniger entwickelten Regionen der Erde in Gefahr. b) Ein Erfolg von Aggression und Annexion in der Ukraine ermutigt andere in anderen Regionen, zentrale Grundsätze des Völkerrechts zu missachten. c) Die Putin-Doktrin, zum Schutz von im Ausland lebenden Russen aus eigenem Recht zu intervenieren, ist eine globale Bedrohung für die zahlreichen Minderheiten anderswo wegen der Gefahr der Nachahmung. d) Die in der Ukraine ausgeübte hybride Kriegführung kann anderswo unter anderen Bedingungen ausgeübt werden. e) Der Ukraine-Konflikt hat die Autorität des UN-Sicherheitsrates geschwächt und diesen blockiert. Die Irrelevanz des UN-Sicherheitsrates droht. f) Die Ukraine erhielt 1994 im Budapester Memorandum Sicherheitsgarantien von Russland als Gegenleistung für den Verzicht von Kernwaffen auf ihrem Gebiet. Das schlechte Beispiel der Annexion der Krim könnte negative Folgen für den atomaren Nichtverbreitungsvertrag und konventionelle Abrüstungsverträge haben. Ähnlich: Harald Müller, Gastbeitrag: Fiasko für die Abrüstung, Frankfurter Rundschau 3.3.2015.
[20] n-tv.de, 12.3.2015; In einer Gedenkstunde zum 70. Jahrestag des Kriegsendes betonte Steinmeier: „Gerade wir müssen heute, vielleicht noch mehr als andere, Verantwortung übernehmen für den Erhalt einer friedenserhaltenden Ordnung“ im Berliner Abgeordnetenhaus (Märkische Online-Zeitung 3.5.2015).
[21] Hans-Georg Ehrhart, Wider eine militärische Eskalation um die Ukraine (http://ifsh.de/news/details/of/news-808). Mit gleicher Tendenz: Ulrich Kühn (IFSH Hamburg): Der Ukraine-Krieg und die europäische Sicherheitsarchitektur, in: Russland-Analysen Nr. 295 vom 8.5.2015. „Die Annexion der Krim und der darauf folgende Krieg in der Ukraine stehen … sinnbildlich für den fast vollständigen Zusammenbruch kooperativer Sicherheitsstrukturen in Europa.“ Nötig sei ein Neuanfang, der „gleichermaßen den westlichen wie auch den russischen Macht- und Sicherheitsinteressen entspricht.“
[22] http://ifsh.de/file-IFSH/IFSH/pdf/News/BW-Kommission_Vertrauensbildung.pdf
[23] Ulrich Kühn, Der Ukraine-Krieg und die europäische Sicherheitsarchitektur, in: Russland-Analysen Nr. 295, S. 7-11
[24] Walther Stützle, Im Feuerschein der Krise, Publik-Forum 20/2014 vom 24.10.2014; inhaltlich ähnlich: Andreas Buro und Karl Grobe in Zusammenarbeit mit Clemens Ronnefeldt, Dossier VII, Der Ukraine-Konflikt. Kooperation statt Konfrontation, herausgegeben von der Kooperation für den Frieden, Bonn, 2014; Otfried Nassauer, Neues Deutschland vom 6.10.2014; Gabriele Krone-Schmalz, Russland verstehen. Der Kampf um die Ukraine und die Arroganz des Westens, CH Beck, München; Matthias Platzeck, Russland einbinden, Sächsische Zeitung 28.11.2014; Michael Gorbatschow, Es fällt schwer, nicht schwarz zu sehen – über eine Neuauflage des Kalten Krieges, www.ipg-journal.de/Kommentar/artikel/es-fällt-schwer-nicht-schwarz-zu-sehen.
Vgl. mit anderer inhaltlichen Ausrichtung: Claudia Major, Jana Puglierin, Eine neue Ordnung. Der Ukraine-Konflikt stellt die Weichen für Europas Sicherheit, in: Internationale Politik 6, November-Dezember 2014, S. 62-71; DIE WELT 15.1.2015, „Sonst tun die Starken, was ihnen passt“, Interview mit Estlands Präsident Toomas Ilves
[25] http://www.zeit.de/politik/2014-12/aufruf-russland-dialog
[26] Journalistenrunde/kommentar/artilel/henrry-a-kissinger-eine-daemonisierung-putins-ist-keine-politik-298
[27] www. Verantwortungspartnerschaft mit Moskau und Washington, Zugriff 12.5.2015, veröffentlicht auch in: Das Blättchen, Ausgabe 8 vom 13.4.2015, www.das-blaettchen.de
[28] http://www.zeitzeichen.net/geschichte-politik-gesellschaft/ostdenkschrift-der-ekd/
[29] Generalanzeiger 3./4. Oktober 2015
[30] Klaus Naumann. Die deutsche Sicherheitsarchitektur: Eine kritische Bestandsaufnahme, www.bmvg.de/…/Vortrag%20WorkshpWeissbuch%20Mai2015.pdf , Zugriff 27.8.2015
[31] Internationale Politik und Gesellschaft IPG. H.J. Gießmann, Friedrich Schorlemer (Willy-Brandt-Kreis), Zum bedrohten Frieden in Europa. Für einen neuen europäischen Umgang mit der Ukraine-Krise. www.ipg-journal.de/rubriken/außen-und-sicherheitspolitik/ar … ; Cécile Druey und Sidonia Gabriel, Kompetenzzentrum für Friedensförderung bei swisspeace, fordern die Förderung der Zivilgesellschaft an der Arbeit der OSZE (FriEnt, Impulse 05/2015)
[32] Ulrich Kühn, Russland-Analysen Nr. 295, S. 7
Foto von Flick-Nutzer Steve Evans unter CC-Lizenz.
Veröffentlicht von mwengelke am Samstag, März 12th, 2016 @ 7:56AM
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