Als unverantwortlich bewertet Tobias Fella von der Friedrich-Ebert-Stiftung in seinem Beitrag „Das Gespenst der deutschen Bombe“ im ipg-Journal das neuerdings erneut aus Kreisen von Wissenschaft und Politik aufkommende Gerede über eine nukleare Bewaffnung der Bundeswehr. Ein nuklear bewaffnetes Deutschland, mit dem in den Anfängen der Bundesrepublik bereits Adenauer und Strauß geliebäugelt hätten, wäre ein falsches Signal und ein eklatanter Bruch mit einer hart erkämpften Nachkriegsidentität, zu der ein Verzicht auf ABC-Waffen gehört. Wir würden uns damit selbst schaden und eine Gegenmachtbildung einleiten, die den Kontinent in die instabile Multipolarität zurückführe. Die „deutsche Frage“ wäre zurück auf der internationalen Agenda. Stattdessen sollten Rüstungskontrolle und Abrüstung wiederbelebt werden.
Konrad Adenauer steht im bundesdeutschen Nachkriegsmythos für Westbindung und Gottvertrauen in die Vereinigten Staaten. Und doch mochte er sich nicht auf den nuklearen Schutz der Amerikaner verlassen. Auf einer Kabinettssitzung im Dezember 1956 forderte Adenauer daher die atomare Bewaffnung der Bundeswehr. Wahlweise durch eigene Anstrengungen, idealerweise gemeinsam mit Franzosen und Italienern, wenn nötig im Geheimen an den USA vorbei. Die Pariser Verträge, in denen man zuvor Massenvernichtungswaffen abgeschworen hatte, seien dabei kein Hindernis. Der dort fixierte Produktionsverzicht gelte nur für deutsches Staatsgebiet, hieß es aus Frankreich.
Für Adenauer und Verteidigungsminister Strauß hatte sich die sicherheitspolitische Lage in den 1950er Jahren rapide geändert. Im Sommer 1956 waren Gerüchte aufgekommen, die Briten wollten ihre Streitkräfte in Deutschland ausdünnen. Zudem arbeiteten die Vereinigten Staaten daran, Europa aus Kostengründen von eigenen Truppen zu befreien. Anstatt die nächste Generation von Farmer Boys aus Iowa auf den Schlachtfeldern Mitteleuropas zu verheizen, sollte die Rote Armee im Kriegsfall mit atomarem Feuer gestoppt werden. Dies sei nicht zuletzt die kostengünstigere Lösung, befand etwa US-Admiral Radford. Hinzu kam der Sputnik-Schock im Oktober 1957: Die Sowjets hatten einen Satelliten ins All geschossen. Amerika wurde für ihre Atomraketen erreichbar. Der Nimbus der Unverwundbarkeit der Amerikaner war perdu.
In dieser Diskussion wird klar, dass ein nuklear bewaffnetes Deutschland tatsächlich ein fatales Signal wäre, ein eklatanter Bruch mit einer hart erkämpften Nachkriegsidentität, zu der ein Verzicht auf ABC-Waffen gehört.
Würden sie in dieser Situation Westeuropa verteidigen, um den Preis der nuklearen Vernichtungen? Waren Bonn und Berlin genauso viel wert wie New York oder Boston? Und wo würde die Abwehr einsetzen, an der innerdeutschen Grenze, am Rhein? War es nicht ressourcenschonender einen begrenzten Atomkrieg auf deutschem Territorium zu führen? Soweit durfte es nicht kommen, meinte man verständlicherweise nicht zuletzt in Westdeutschland. Die Bombe für Bonn wurde so zum vermeintlichen Ausweg. Und Paris sollte dabei helfen, war es doch in der Suezkrise von den USA gedemütigt worden und zu jener Zeit ebenfalls noch keine Atommacht.
Aus der Idee wurde bekanntlich nichts. Der Algerienkrieg und De Gaulle standen im Weg. Frankreich wurde alleine Atommacht, die Bundesrepublik bekam die „nukleare Teilhabe“ und durfte die Waffen, wenn schon nicht besitzen, dann doch nach US/NATO-Autorisierung einsetzen. Was Strauß davon gehalten hat, steht in seinen Erinnerungen: „Da lässt man den kleinen Kasperl mit der Kindertrompete neben der Militärmusik herlaufen und ihn glauben, er sei der Tambourmajor.“ Im Auswärtigen Amt dagegen war man erleichtert. Verheerende politische Konsequenzen waren abgewendet, fürs Erste.
Heute, fast sechs Jahrzehnte später, konstatiert Constanze Stelzenmüller vom Washingtoner Think Tank Brookings Institution „das schlimmste deutsche Sicherheitsdilemma seit den 1950er Jahren“. Aus dem Westen tönt Donald Trump über „Frieden nur durch Stärke“, auch bei den Atomwaffen. Aus dem Osten kündigt Vladimir Putin „revolutionäre Waffensysteme“ an, die Nuklearsprengköpfe „an jeden Ort der Welt, an jeder Abwehr vorbei“ tragen sollen. Und Deutschland steht dazwischen.
Auch heute wird an westlicher Solidarität gezweifelt. Die Nuklearmacht Großbritannien beordert diesmal nicht bloß Truppen zurück, sondern verlässt die EU; während Frankreich nukleare Abschreckung weiter zuerst national denkt und die NATO-Beistandsgarantie wackelt. Schuld daran sind für das Weiße Haus die Deutschen, die zu wenig für ihr Militär ausgäben und über Nord Stream 2 gemeinsame Sache mit Moskau machten. Wäre dem nicht genug, sind Rüstungskontrolle und Nichtverbreitungsregime in der Krise, und Kernwaffenstaaten modernisieren ihre Arsenale. Wie 1953 mit der „Atomkanone Anni“, die Nukleargranaten bis zu 29 Kilometer ins Feindesland trug, sollen präzisere Systeme mit weniger Sprengkraft, die Einsatzschwelle senken und dadurch „weiche Stellen“ in der Abwehr schließen.
Wir schaden uns selbst und leiten eine Gegenmachtbildung ein, die den Kontinent in die instabile Multipolarität zurückführt.
Zu allem Überfluss werden unter anderem in den USA sogenannte Hyperschallgleiter konstruiert, die so schnell sind, dass sie wirksame Gegenmaßnahmen unmöglich machen. Wenn dann Trump noch eine „Weltraumstreitmacht“ ausruft und Frühwarnsysteme konstant aus dem Cyberraum bedroht sind, dann erscheint des Prinzip der „wechselseitig gesicherten Vernichtung“ des Kalten Kriegs, das Credo „Wer zuerst schießt, stirbt als Zweiter“, plötzlich wieder geradezu stabilitätsstiftend.
Eine Welt, die schlimmer ist als 1957? Ist nicht diesmal wirklich ein „Punkt ohne Wiederkehr“ im internationalen System erreicht, der Atomwaffen erfordert? Wie wollen wir uns denn sonst noch schützen, wenn auf niemanden mehr Verlass ist? Ist nicht zumindest ihre taktische Variante, wie Bundeskanzler Adenauer damals meinte, „nicht anders als eine (konsequente) Weiterentwicklung der Artillerie“? Diesmal muss die Bombe her, auch für Deutschland! So die Forderung von Politikwissenschaftler Christian Hacke in der Welt.
Doch wie würde das aussehen? Zunächst müsste der Atomaussieg von 2011 rückgängig gemacht werden, eine Hürde, die in den 50ern nicht zu überspringen war. Dessen ungeachtet wären die Bomben machbar. Über URENCO ist Deutschland schon heute weltweit führend in der Urananreicherung. Strategisch aber sähe das ganz anders aus: Wann würden die Bomben eingesetzt, für und gegen wen? Wie würden sie ins Ziel getragen? Zu Land, zu Wasser, zur Luft? Würden taktische Gefechtsfeldwaffen entwickelt, um flexibel und abgestuft reagieren zu können, beispielsweise auf einen begrenzten Nuklearschlag gegen einen Flugzeugträger in der Ostsee, einen deutschen, der dann bestimmt schon vorhanden wäre? Und wie würden Menschenleben, Städte gegen Städte, gegeneinander aufgerechnet? Berlin für Warschau? Und wer wollte das tun?
All diese Fragen erschrecken. In den Atomwaffenstaaten aber werden sie gestellt und beantwortet – früher wie heute. Sie zu kennen ist deshalb wichtig, nicht aus Zustimmung in ihre Notwendigkeit, sondern als Basis für die gegenseitige Verständigung.
In dieser Diskussion aber wird klar, dass ein nuklear-bewaffnetes Deutschland tatsächlich ein fatales Signal wäre, ein eklatanter Bruch mit einer hart erkämpften Nachkriegsidentität, zu der ein Verzicht auf ABC-Waffen gehört. Die „deutsche Frage“ wäre zurück auf der internationalen Agenda. Denn nicht irgendein Land hätte zum Sprung zur Atommacht angesetzt, zur Einzel-Hegemonie über Europa, sondern eines, das in jüngster Zeit nicht gerade nur Zuspruch findet, etwa für seine Austeritäts- und Migrationspolitik.
Nicht zuletzt deshalb darf der Griff nach der Atombombe auch heute nicht gelingen. Schritte weit unterhalb dieser Schwelle sind möglich, von verstärkten Anstrengungen zur konventionellen Abschreckung bis zur Förderung des Dialogs mit europäischen und anderen Partnern darüber, was strategische Stabilität heute bedeutet. Und auch die Rüstungskontrolle und Abrüstung könnte wiederbelebt werden. Gewiss wäre das alles kein Heilmittel und ginge schon gar nicht alleine. Aber die Alternative kann keine deutsche Bombe sein.
Gehen wir diesen Schritt dennoch, dann setzen wir uns, wie Wolfgang Ischinger, Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz, kürzlich bemerkt hat, „selbst schachmatt!“ – und die NATO und den europäischen Einigungsprozess gleich mit. Kurzum: Wir schaden uns selbst und leiten eine Gegenmachtbildung ein, die den Kontinent in die instabile Multipolarität zurückführt. Besonders Realisten wie Hacke, die sonst bei jeder Gelegenheit eine Interessen- und machtgeleitete Außenpolitik fordern, sollten das eigentlich wissen: Die atomare Bewaffnung ist nicht im deutschen Interesse.
Konrad Adenauer bezeichnete den Atomwaffensperrvertrag von 1967 als „Morgenthau-Plan im Quadrat“, eine Anlehnung an amerikanische Überlegungen, Deutschland nach dem Ende des 2. Weltkriegs in einen Agrarstaat umzuwandeln. Auch für Bündnisse wie „Kampf dem Atomtod“, in denen sich Vertreter der Kirchen, Gewerkschaften und sozialdemokratischen Opposition zu seiner Zeit zusammenfanden, hatte „der Alte“ wenig übrig. Ganz zu schweigen von den 18 deutschen Atomforschern, die ihn 1957 im „Göttinger Manifest“ eindringlich vor der nuklearen Gefahr gewarnt hatten. Dennoch glaubte Adenauer bis an sein Lebensende an das Erfordernis einer nuklearen Option für die Bundesrepublik. Diese Auffassung war damals so gefährlich wie heute.
Dieser Artikel erschien unter dem Titel „Atommacht Deutschland! Und dann?“ in gekürzter Fassung am 9. August 2018 im Tagesspiegel und in dieser Version am 14. August 2018 im IPG-Journal.