Was ist los in der Bundeswehr? Seminarnachlese
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Unser Grundsatz
Der Arbeitskreis respektiert die Rolle der Bundeswehr als Bestandteil der Verteidigung unserer demokratisch verfassten Gesellschaft auf der Basis des Grundgesetzes und des Völkerrechts.
Wir begleiten kritisch die Politik hinsichtlich des Auftrags der Streitkräfte, deren Bindung an Moral und Gesetze, die Umsetzung des Staatsbürgers in Uniform sowie nichtmilitärische Alternativen der Konfliktbewältigung.
Beim im April durchgeführten 99. Seminar des Darmstädter Signals in Kooperation mit dem Johannes Albers Bildungsforum in Königswinter bei Bonn diskutierten und die ca. 40 Teilnehmer über das Thema „Was ist los in der Bundeswehr?“. Verschiedene Experten und Referenten mit Bundeswehrbezug, darunter auch ein Vertreter des Bundeswehrverbandes, nutzen die Gelegenheit, durch Vorträge und Referate Denk- und Diskussionsanstöße zu liefern.
Den Auftakt machte Major im Generalstabsdienst Marcel Bohnert, der vor allem durch seine Herausgeberschaft des Buches „Armee im Aufbruch“ und seine Kritik am Leitbild vom Staatsbürger in Uniform – der Inneren Führung – Bekanntheit erlangte. Inzwischen hat er zu dieser Diskussion mit einem neuen Buch „Innere Führung auf dem Prüfstand“ nachgelegt und seine Analysen den Teilnehmern vorgestellt. Bohnert ist seit 1997 bei der Bundeswehr und war mit der Bundeswehr im Kosovo und in der afghanischen ISAF Mission beteiligt. Er habe vor allem im Auslandseinsatz zum ersten Mal den Konflikt der Soldaten mit der Konzeption aus der Gründerzeit der Bundeswehr erfahren. Dabei stellt er fest, dass die Innere Führung nach dem historischen Wandel von der Verteidigungsarmee zur Einsatzarmee nicht mehr auf einem festen Fundament stehe, zugleich aber die Verfechter des Leitbildes behaupten würden, dass diese sich in den Einsätzen bewährt habe. Vielmehr sei aus ihr ein Lippenbekenntnis vor allem der höheren Bundeswehrführung und Politik geworden, die regelmäßig behauptet, dass sich die Innere Führung bewährt habe, nun aber konsequenter angewendet werden müsse und Kritiker sie einfach nicht verstanden hätten. Zu diesem Ergebnis kämen aber auch bundeswehreigene Untersuchungen, nach denen vor allem in der Mannschafts- und Unteroffiziergruppe über die Hälfte der Soldaten das Leitbild noch nie wahrgenommen hätten oder schlicht nicht kennten. Diese Signale hält Bohnert für alarmierend, da die Innere Führung zur gesamten Armee gehöre und nicht nur den Offizieren und Generälen. An vielen Stellen legte Bohnert den Finger in die Wunde und stellte so wie die Teilnehmer fest, dass vor allem das Legitimationsproblem der Auslandseinsätze nicht mehr mit der Inneren Führung aus Zeiten einer Friedensarmee lösbar wäre. Während Bohnert als Folge des Gleichgewichtsverlustes eine Änderung des geistigen Überbaus fordert, um sich der Realität anzupassen, forderten die Teilnehmer des Darmstädter Signals, die Legitimationsprobleme durch die Beendigung der Auslandseinsätze zu lösen. „Die Innere Führung funktioniert – die Umfragen innerhalb der Bundeswehr zeigen, dass die Truppe sehr wohl merkt, dass ihre Auslandseinsätze weder in der Bevölkerung Unterstützung finden, noch die nötige Rückendeckung von der Politik da ist. Meist ist auch der militärische Nutzen der Einsätze von den Soldaten selbst stark in Zweifel gezogen worden.“, erklärte Ak- Sprecher Florian Kling. „Statt das schlechte Bauchgefühl der Soldaten zu ignorieren, sollten wir lieber über das eigentliche Problem sprechen und die Ziele deutscher Außen- und Sicherheitspolitik neu regeln.“ [Download Bohnert Präsentation]
Am Samstag sprach der Militärhistoriker Dr. Detlef Bald über den neuen Traditionserlass. Während der erste Erlass von 1965 vor allem Ordnung schaffen sollte und mit dem entstandenen Chaos um Skandale in Bezug auf die Wehrmacht in den Anfangsjahren der Bundeswehr aufräumen sollte, sei 1982 vor allem der Wertewandel nach 1968 in die Richtlinien übertragen worden. Dabei sei die Wehrmacht als nicht anknüpfungswürde Vorgängerin der Bundeswehr ausgeschlossen und sich von ihren Werten klar abgegrenzt worden. Wesentlich kritischer sieht Bald im alten Traditionserlass die fehlende Thematisierung des Militarismus in der Zeit von 1810 – 1945: „Dieser deutsche Militarismus war zum einen ein Verfassungsproblem, indem sich Bismarck regelmäßig mit seinem Militärkabinett traf und der Parlamentarismus regelrecht ausgegrenzt wurde, aber auch immer ein soziales Problem, dessen antidemokratische und antirepublikanische Ausgestaltung des Klassensystems vor allem der Herrschaftssicherung diente“. Elemente dieser Geschichte seien auch in die frühe Geschichte der Bundeswehr eingegangen und lebten bspw. in den Selektionsprinzipien für den Offiziersnachwuchs fort. Bis Anfang der 60er Jahre hätten dieselben Kriterien gegolten wie in der Preußischen Armee um 1914. Dabei seien mit einem 15%-Anteil an Adeligen in der Bundeswehr, die Widerstand der Generalität gegen eine zivile parlamentarische Kontrolle erklären. Ihren Höhepunkt hätte dieses Wirken 1969 im Skandal um das Gutachten der Generalität (Schnez-Studie)erreicht, die Atomwaffen direkt mit den US-Amerikanern ohne Genehmigung des deutschen Ministers einzusetzen. Spätestens mit Helmut Schmidt sei 1974 der Primat der Politik auch für die Bundeswehr wieder festgeschrieben worden. Im neuen Erlass habe sich viel verbessert, obwohl noch immer einige Leerformeln enthalten seien. Auch werde teilweise das Militär als Missbrauchsopfer der Politik dargestellt, statt die aktive Umsetzung dieser Politik historisch richtig darzustellen. Auch werde die NVA der Bundeswehr als gleichwertige Partnerin ihrer jeweiligen Bündnisse in einer historisch glattgeschliffenen Deutung beiseitegestellt, statt ehrlich und klar die Geschichte der Bundeswehr als Traditionslinie festzulegen. So falle der neue Erlass inhaltlich hinter den aktuellen Stand der Militärgeschichte zurück. Auch fordert Dr. Bald eine stärke Nennung der Auslandseinsätze, um bessere Zugänge für gefallene und verletzte Soldaten zu schaffen.
Nachdem die Themen der Inneren Führung diskutiert wurden, sprach Oberstleutnant Detlef Buch vom Bundeswehrverband über die konkreteren Probleme der Streitkräfte. Die Personalengpässe machten der Truppe demnach am meisten zu schaffen. So seien derzeit etwa 20.000 Dienstposten unbesetzt. Ein weiterer wichtiger Kritikpunkt sei die Kommunikation innerhalb der Dienststellen und die damit einhergehende Verantwortungsdiffusion, die viele Situationen u.a. bei der Einsatzverlegung oder für die Beteiligung von Soldaten einfach nicht mehr regelt. Andererseits seien viele Bereiche so sehr reglementiert und überbürokratisiert, dass viele Vorgesetzten ihren umfänglichen Aufgaben nicht mehr nachkommen könnten. Ein großes Problem wäre auch das eingeführte Regelungsmanagement, das aus 75000 Vorschriften noch 15000 Vorschriften machen sollte. Inzwischen fände sich aber niemand mehr zurecht, und die Soldaten wüssten schlicht nicht mehr, welche Vorschriften es gebe. Auch Zulieferer für vermeintlich einfache Artikel wie Feldhosen sähen sich durch Auflagen aus 50 dazugehörigen Anlageblättern nicht mehr im Stande, die Regelungen der Bundeswehr umzusetzen. So sei inzwischen in den Grundausbildungen ein Engpass an Stiefeln und Unterhemden eingetreten. Auch für die im letzten Jahr eingeführte europäische Arbeitszeitverordnung (die 40-Stunden-Woche) zeichnet Buch ein düsteres Bild. So sei ein dermaßen großes Chaos durch die Bürokratie entstanden, die nutzerunfreundlich sei und in 700 Seiten die Ausführungen zur Umsetzung regelte. Auch sei durch verschiedene Regelungen für Mitarbeiter in Ämtern und in der Truppe eine Zweiklassenarmee entstanden. Während Überstunden in Ämtern mit 20€ vergütet würden, erhielten Soldaten der Truppe lediglich 8,6 € für dieselbe geleistete Zeit. Die umfangreichen Probleme ließen ihn sogar ein eigenes Buch schreiben, das SAZV-NOT-Book, das Soldaten Hilfestellung bei der Bewältigung der Probleme bieten soll. Auch zeigte er, wie unüberlegte Reformen und das Verstellen von Rädchen am Getriebe Bundeswehr wo völlig anders unüberwindbare und schädliche Hürden auslösen könnten. So sei bspw. durch die Verlängerung von Zeitsoldaten-Verhältnissen und vor allem durch die vermehrte Einstellung von Seiteneinsteigern das Problem entstanden, dass über 10.000 Menschen nach ihrem Dienst der Zugang in die gesetzlichen Krankenversicherungen verwehrt bleibt.
Danach berichtete Militärpfarrer und gegenwärtiger Referent des evangelischen Militärbischofs Dr. Klaus Beckmann über die moralische Situation und die fehlende Umsetzung der Inneren Führung in der Truppe. So seien inzwischen vielerorts Entscheidungen von Vorgesetzten durch Verrechtlichung und Führung durch Administration ersetzt worden. Eigentlich seien Militärpfarrer für die „letzten Fragen“ im Umgang mit Leid, Schuld und Tod zuständig. Zunehmend werde er aber mit Klagen über dienstliche Probleme kontaktiert und erhielte so einen tiefen Einblick in die Probleme der Bundeswehr – vor allem in das Innerer ihrer Soldatinnen und Soldaten. „Erschreckend oft waren es junge Offiziere, die sich unter dem Siegel seelsorgerischer Verschwiegenheit „erleichterten“, ihre Vorgesetzten aus Sorge um Beurteilung und Karriere aber nicht ansprachen.“ Die Atmosphäre in der Truppe sei demnach massiv von vorauseilendem Gehorsam und der Scheu vorm „Anecken“ belastet. Beckmann fordert die Wiederentdeckung aufmüpfigen Bürgertums und fordert, dass auch Seelsorge die Courage wieder wecken soll. „Kritik zu verschweigen, ist illoyal.“ So verficht der Referent auch die Innere Führung und hofft, dass gute Beispiele Schule machen und zukünftig konstruktive Offenheit nicht mehr als Karriererisiko wahrgenommen wird. Die Bundeswehr wünsche sich in ihren Statuten und öffentlichen Verlautbarungen Soldaten, die aus Einsicht handeln. Soldatische Treue beweise sich in kritisch-konstruktivem Mitdenken. Naturgemäß liege der „Ernstfall“ ethischer Bildung vor jedem Einsatz. Da müssten Urteilsvermögen und argumentativer Austausch trainiert werden, gerade mit Führungspersonal. Ein besonderes, im Dienstalltag „raumgreifendes“ Arbeitsfeld der Militärgeistlichen sei der lebenskundliche Unterricht, der seit 2008 für alle Dienstgradgruppen konfessionsneutral erteilt wird. Er sei für die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr ohne Ausnahme verpflichtend. Sein Curriculum bewege sich etwa zwischen dem Ethikunterricht der Oberstufe und dem Religionsunterricht an Berufsbildenden Schulen, zugeschnitten jeweils auf den soldatischen Dienst- und Lebensalltag. Das entscheidende „Plus“ des LKU sei, dass im Militärgeistlichen ein von hierarchischer Einbindung freier Akteur, der zugleich eine hohe Feldkompetenz besitze, den Unterricht gestalte: Dies markiere die „überschießende“ Qualität dieses Unterrichts, insbesondere in der wahrgenommenen Freiheit zur Diskussion. Christliche Militärgeistliche kämen hier themenbezogen mit Soldaten anderer christlicher Konfession, aber genauso mit Bekenntnislosen oder auch mit Muslimen ins Gespräch. Die Feldkompetenz der Geistlichen, ihre Vertrautheit mit dem militärischen Alltag „in der Heimat“ und in den Auslandseinsätzen werde dabei regelmäßig „geprüft“ und im Dialog vertieft. Leitbild der soldatischen Bildung und Erziehung in der Bundeswehr sei der „Staatsbürger in Uniform“, plastischer in Baudissins Worten: der „demokratisch überzeugte Wehrbürger“. Dies markiere eine Absage an jene militaristische Untertanentradition, wie sie die deutsche Vergangenheit kennzeichnet. Ansatzpunkte zur Stärkung des durchaus vorhandenen inneren Kompasses vieler Soldaten seien politische und ethische Bildung, Stärkung der Persönlichkeit, Überprüfung des Beurteilungswesens (konstruktive Kritik muss sich auszahlen!) und Stärkung des Grundvertrauens und der Kritikbereitschaft. „Warum ist es etwas Besonderes, wenn ein Offizier offen Kritik äußert?“, fragt Beckmann. Gesellschaftlich müsse sich das Bewusstsein für globale Sicherheit und Gerechtigkeit verbessern, gleichsam aber nicht das Soldatische überhöht werden. Weiter solle bspw. das Bürgerschaftliche im Sinne von „Verantwortung tragen für diese Welt“ gestärkt werden, das Soldatsein im Rahmen eines vernetzten Sicherheitsmodells attraktiviert werden. Beckmann fasste zusammen, dass „insgesamt demokratischer Wagemut“ gefordert sei.
Im Folgevortrag war der ehemalige Bundestagsabgeordnete und Bundeswehrkenner Winfried Nachtwei (B90/Grüne) noch einmal zur Inneren Führung und möglichen Verbesserungen gefragt. Unter dem Titel „Innere Führung fängt oben an“ beschrieb Nachtwei zunächst die aus seiner Sicht drängendsten Probleme zur Ordnung des Dienstalltags. So gäbe es zwar eine gute Urteilsfähigkeit an den entscheidenden Stellen der Bundeswehr, diese fände aber nur hinter verschlossenen Türen statt. Ebenfalls bemängelt er die Umsetzung der Soldatenarbeitszeitverordnung, die zwar einen guten Vorsatz verfolgte, aber in der Wirklichkeit ein massiver Schlag gegen die Dienstmotivation und Einsatzbereitschaft der Bundeswehr darstellte. Auch stellt er eine gläserne Decke beim Weitermelden von Problemen in der hierarchischen Struktur fest. Zudem schwinde der Zusammenhalt der Streitkräfte auch durch fehlende Betreuungseinrichtungen. Ein Kasernenleben gäbe es demnach nur noch im Einsatz oder auf Übung, an den Heimatstandorten aber nicht mehr. So fragt er: „Der Spieß prägt seine Männer – aber wann?“ Alle wichtigen Möglichkeiten zur Vermittlung von Innerer Führung seien durch die beschriebenen Probleme an die Seite gedrängt worden. Die Wortwahl auf Kommandeurstagungen, „dass man Herausforderungen habe, aber auf einem guten Weg sei“, habe sich als Unsitte auch im Parlament verankert. So würde nicht mehr zuerst aufgeklärt, sondern sofort Schuldige benannt. Dieser von oben bis unten durchgehende sehr große Vertrauensverlust in politische und militärische Führung inkl. der schweigenden Generäle gepaart mit der Wahrnehmung der Soldaten, die Gesellschaft würde sich abwenden oder nicht interessieren, müsse vor allem von oben angegangen werden. Es sei in der Truppe zwar allgemein der Primat der Politik anerkannt, aber dessen Ausfüllung sei entscheidend für Legitimation, Moral und Innere Ordnung der Bundeswehr. „Auslandseinsätze müssen klar formuliert und umsetzbar sein“, fordert Winfried Nachtwei. Durch die fehlende Operationalisierung und Nichtüberprüfbarkeit seien in der Politik keine Analysen oder Evaluationen der Einsätze möglich. Eine Grundtendenz zur Beschönigung und Verleugnung der Realität führe zu einer Zersetzung der Inneren Führung von ganz oben. Soldaten seien dann im Einsatz zurückgeworfen auf Professionalität und Kameradschaft – etwas anderes gebe es nicht, weil die Politik es nicht liefere. „Dienen aus Einsicht“ sei demnach wesentlich davon abhängig, dass die Politik diese Bedürfnisse auch kennt und bedient. Hierzu zählten die Verfassungs- und Völkerrechtstreue von Einsätzen, überprüfbare Ziele, adäquate personelle Ausstattung, Wirkungsanalyse und eine verlässliche Betreuung der Soldaten.
Als besondere Gäste waren die Veterans for Peace aus Großbritannien zu Gast beim Darmstädter Signal. In einer abendlichen Veranstaltung stellten sie ihren Verein und ihre Aktionen vor. Vor allem die Teilnehmer aus Deutschland zeigten sich hoch erfreut über eine dem Darmstädter Signal ähnliche Nichtregierungsorganisation, die sich denselben Zielen verschreibt und mit ehemaligen Militärs für den Frieden kämpft. Das Darmstädter Signal wurde zur jährlichen Zeremonie und 100. Jubiläum des Ersten Weltkriegs herzlich eingeladen.
Der Sonntag stand ganz im Zeichen von Kurt Tucholsky, der als Soldat selbst ebenfalls Militärkritiker war. [Download Rose – Tucholsky und die Innere Fuehrung]
Der Arbeitskreis Darmstädter Signal hat Kurt Tucholsky posthum zu seinem Ehrenmitglied ernannt. Die Initiative dazu ging von unserem Vorstandsmitglied Jürgen Rose aus, der zugleich auch langjähriges Mitglied in der Kurt Tucholsky-Gesellschaft ist.
Auf der diesjährigen Tagung des DS am 08.04.2018 in Königswinter übergab dessen Sprecher Hauptmann Florian Kling die Ernennungsurkunde an den KTG-Vorsitzenden Ian King [Download Ian King – Lob eines Militaerkritikers vor kritischem Militaers].
Der „Festakt“ vor 40 Teilnehmern mit Vorträgen vom KTG-Vorsitzenden Dr. Ian King aus Schottland und Jürgen Rose machte deutlich, daß Kurt Tucholsky beim Darmstädter Signal gut aufgehoben ist.
Kurt Tucholsky kannte die Reichswehr aus allen Blick- und Erfahrungswinkeln, denn er legte im 1. Weltkrieg eine erstaunliche Karriere hin vom Armierungssoldaten im Stellungskampf an der Ostfront über den Kompanieschreiber an der Fliegerschule in Alt-Autz bis zum Feldpolizeikommissar in Rumänien. Das entspricht immerhin dem Rang eines Hauptmanns.
Direkt nach dem 1. Weltkrieg entwickelte sich Tucholsky insbesondere mit seinen „Militaria-Artikeln“ in der Weltbühne zu einem der fundiertesten Militärkritiker im linksliberalen, demokratischen und republikanischen Spektrum. Kurze Zeit später wandelte sich Tucholsky vom Militärkritiker zu einem radikalen Pazifisten und konsequenten Militärgegner, der sich für Kriegsdienstverweigerung aussprach und mit dem Satz „Soldaten sind Mörder“ ein hartes aber treffendes Urteil über den Soldatenberuf fällte.
In seiner „Laudatio“ nahm Dr. Ian King den Pazifisten Tucholsky in den Blick und ging dabei auch auf den Kontext und Entstehungsgeschichte des bekannten Tucholsky-Zitates „Soldaten sind Mörder!“ sowie dessen Rezeption in den späten 80er Jahren in der Bundesrepublik ein.
Zuerst bedankte sich Dr. Ian King für den Mut des Darmstädter Signals Kurt Tucholsky zum Ehrenmitglied zu ernennen. Würde dieser doch sehr häufig mit seinem Ausspruch „Soldaten sind Mörder“ identifiziert und als „Beleidiger der Soldatenehre“ verunglimpft, ohne Beachtung des Kontextes des Artikel aus dem dieses Zitat stammt.
Dr. Ian King zitiert einen längeren Auszug aus dem bekannten Artikel „Der bewachte Kriegsschauplatz“ in dem das angeführte Zitat die letzte Schlußfolgerung ist. Der Artikel ist Ausfluß der Erfahrungen Tucholskys in seiner Dienstzeit als Militärpolizist unweit der rumänische-serbischen Grenze. Er war dort genau für die Aufgabe der Bewachung des Kriegsschauplatzes eingesetzt. Natürlich wußte Tucholsky als Jurist, daß der Begriff „Mörder“ niedrige Beweggründe voraussetzt. Juristisch genauer wäre der Begriff „Totschlag“ gewesen. Doch Dr. Ian King gab mit seinem trockenen schottischen Humor zu bedenken, daß es einem Journalisten auf politische Wirkung ankommt und „Soldaten sind Totschläger“ sich nicht so effektiv angehört hätte. Übrigens wurde Kurt Tucholsky, bzw. der Herausgeber der „Weltbühne“ Carl von Ossietzky, der für den sich bereits in Schweden befindenden Tucholsky juristisch den Kopf hinhalten mußte, 1931 in einem aufsehenerregenden Prozeß von dem Vorwurf der „Beleidigung der Reichswehr“ freigesprochen.
Die juristische Auseinandersetzung mit dem Tucholsky-Zitat in der Bundesrepublik begann im Jahr 1984, als Dr. Peter Augst, ein Mitglied der „Ärzte zur Verhütung des Atomkrieges“, in einem Streitgespräch mit dem Bundeswehrhauptmann Klaus Peter Witt Soldaten als potentielle Mörder bezeichnete. Der juristische Streit, in dem der Minister Stoltenberg als Nebenkläger auftrat und in den sich auch Bundespräsident Richard von Weizsäcker als Verteidiger der beleidigten Soldatenehre einmischte, endete erst nach drei Jahren mit dem Sieg der Meinungsfreiheit und einem Freispruch von Augst durch das Bundesverfassungsgericht.
Dr. Ian King wies dann darauf hin, daß auf dem Höhepunkt der aufgeheizten Diskussion über das „Soldatenurteil“ sich Mitglieder des Darmstädter Signals mit einem Aufruf zur Mäßigung in die Diskussion eingeschaltet hätten. Für einige Unterzeichner dieser Stellungnahme zog dies empfindliche Disziplinarmaßnahmen – bis hin zur Degradierung – nach sich, die erst viele Jahre später wieder rückgängig gemacht werden mußten. Das alles könne man, so Ian King, in der im Ch. Links-Verlag erschienenen Dokumentation von Michael Hepp und Viktor Otto nachlesen.
Nach diesem Exkurs schilderte Dr. Ian King die Wandlung Kurt Tucholskys vom Militärkritiker, der auf eine geistige und republikanische Erneuerung der Reichswehr setzte, hin zum radikalen Pazifisten, dem Mitgründer des Friedensbunds der Kriegsteilnehmer. Als Tucholskys Mitarbeit an den Massendemonstrationen der Nie-wieder-Krieg-Bewegung nicht zu einem Meinungsumschwung im deutschen Bürgertum führte, habe er 1925 bekümmert geschrieben, Europa befinde sich wie 1900 zwischen zwei Kriegen. Er prophezeite Deutschland würde eine noch schlimmere Niederlage erleiden als 1918. Im Lichte dieser Ahnungen habe Tucholsky jede Hoffnung auf demokratische Reformen der Armee aufgegeben. Darum habe er die These vertreten, daß das einzige Mittel, neue Kriege zu verhindern, darin bestehe, den Militärdienst zu verweigern.
Dr. Ian King zitiert Tucholsky: „Dieser Landesverrat kann eine Notwendigkeit sein, um etwas Großes und Wichtiges abzuwehren: den Landfriedensbruch in Europa. Der europäische Friede steht über den niedern Interessen der Vaterländer.“
Für Dr. Ian King steht die Idee, die Bundeswehr sei eine Friedensarmee, im krassen Gegensatz zu ihrem Einsatz am Hindukusch. Er stellt die rhetorische Frage ob solche Einsätze den Frieden auf den Straßen von London, Berlin, Madrid oder Paris garantieren könnten.
Nach Ansicht von Dr. Ian King hätte Tucholsky den Bundeswehrsoldaten geraten, niemals Mörder zu werden, sondern höchstens eine Art Feuerwehr gegen einen Großbrand, der hoffentlich nie ausbricht. Das sei Tucholskys Vermächtnis und darum passe der Friedenssoldat Tucholsky in die Reihen der kritischen Soldaten vom Darmstädter Signal, schloß Dr. Ian King seinen Vortrag ab.
Im Anschluß an Dr. Ian King verglich Jürgen Rose die Militärkritik der frühen 20er Jahre Tucholskys mit dem Konzept der „Inneren Führung“ mit seinem Leitbild vom „Staatsbürger in Uniform“, das der Generalleutnant Wolf Graf von Baudissin in den 50er Jahren zur Umsetzung einer grundlegenden Militärreform in der Bundesrepublik Deutschland für die neu zu gründende Bundeswehr ausgearbeitet hatte. Die Gemeinsamkeiten sowohl in der Kritik am soldatischen Korpsgeist als auch bei Lösungsvorschlägen für eine Demokratisierung der Streitkräfte bis hin zu einer fast gleichen Wortwahl in manchen Punkten sind verblüffend. Hätte Kurt Tucholsky das gewußt, wäre sein Urteil „Erfolgreich, aber keinerlei Wirkung“ etwas versöhnlicher ausgefallen. Vielleicht sitzt Kurt „Nachher“ auf seiner Wolke und schmunzelt.
Baudissin beantwortet die zentrale Fragestellung der Inneren Führung mit dem Konzept der „Entmilitarisierung des soldatischen Selbstverständnisses“. Seine Forderungen beziehen sich auf die innerorganisatorische, die binnengesellschaftliche und internationale Perspektive der soldatischen Berufsausübung. Eine „Zivilisierung des Militärs“ ist nach Baudissin erreicht, wenn Streitkräfte menschrechtskompatibel, demokratiekompatibel und friedenskompatibel sind.
Der elitäre Korpsgeist, der sowohl in der Reichswehr als auch in Wehrmacht herrschten, müsse überwunden werden. Die Demokratie dürfe „nicht am Kasernentor aufhören“. Baudissin knüpfte die Existenzberechtigung des Militärs an eine strikt defensive Ausrichtung der Streitkräfte zur Verteidigung von Demokratie und Freiheitsrechten und konzipierte die Bundeswehr in enger Einbindung in eine noch zu schaffende europäische Sicherheitsarchitektur.
Jürgen Rose verglich nun in seinem Vortrag die Ideen und Vorstellungen Baudissins für eine „demokratische Bundeswehr“ mit der von Kurt Tucholsky geäußerten Kritik und Änderungsvorschlägen für die Reichswehr in der Weimarer Republik ab. Dabei klopfte er die einschlägigen Aussagen Tucholskys mit Bezug auf die innerorganisatorische, die binnengesellschaftliche sowie die internationale Dimension von Streitkräften daraufhin ab, inwieweit sie zur Verbesserung der Menschenrechtskompatibilität, der Demokratiekompatibilität sowie der Friedenskompatibilität der Streitkräfte beitragen können. Jürgen Roses Ergebnisse des Vergleichs sollen hier kurz – aber hoffentlich nicht verkürzt – skizziert werden.
Mit Bezug auf die innerorganisatorische Dimension rechnete Tucholsky in der 1919 in der Weltbühne erschienene „Militaria“-Reihe mit den deutschen Offizierskorps ab. Er verweist dabei auf die sadistische Schinderei von Untergebenen, die unumschränkte Macht der Vorgesetzten, deren „nerohafte Neigungen“ sowie die grassierende Korruption und attestierte dem wilhelminischen Offizierskorps den totalen moralischen Bankrott. „Der deutsche Offizier hat in sittlicher Beziehung im Kriege versagt. Der Geist des deutschen Offizierskorps war schlecht.“
Für eine zukünftige Truppe verlangte Tucholsky, daß deren Soldaten das Recht haben müßten als Menschen und nicht als Kerls behandelt zu werden. Für Tucholsky war daher klar, daß die Armeeangehörigen untereinander ungeachtet ihres Dienstgrades allesamt als Kameraden zu gelten hätten „Der Offizier sei ein befehlender Kamerad.“ Die Nähe zu Baudissins Konzept der „Inneren Führung“ ist offensichtlich.
Mit Blick auf die gesamtgesellschaftliche Dimension der Streitkräfte forderte Tucholsky kurz nach dem Kapp-Putsch die Auflösung der Reichswehr und deren Umwandlung „in eine zuverlässige Volksmiliz“. Einer solchen Freiwilligenarmee gestand auch der spätere Pazifist Tucholsky noch das Recht für militärische Aktivitäten zu. Schon kurz nach dem 1. Weltkrieg urteilte Tucholsky aber grundsätzlich: „Eine Armee … ist – im besten Fall – ein notwendiges Übel und eine üble Notwendigkeit“
Nach Tucholskys Ansicht dürfe die neue Reichswehr nicht unpolitisch sein. Im Gegenteil sie müsse durch und durch politisch, ja sogar definitiv republikanisch sein. Damit war Tucholsky in seiner Haltung, so urteilte Jürgen Rose, weitaus radikaler als Wolf Graf von Baudissin, der mehr als 30 Jahre später lediglich eine „Entmilitarisierung des soldatischen Selbstverständnisses“ forderte.
Auch in Bezug auf die internationale Dimension vertraten Tucholsky wie Baudissin eine europäisch-supranationale Sicht, Tucholsky schloß dabei aber bereits Militäreinsätze aus. Während Baudissin, so Jürgen Rose in seinem Vortrag, eine explizit nicht national, sondern „übernational“ strukturierte integrierte europäische Armee zum Zwecke kollektiver Verteidigung forderte, setzte Tucholsky – als dieser sich bereits in seiner pazifistischen Phase Ende der 20ger Jahre befand – auf eine europäische Friedenspolitik ohne Einsatz des Militärs. „Der europäische Friede steht über den niederen Interessen der Vaterländer. … Wir halten den Krieg der Nationalstaaten für ein Verbrechen, und wir bekämpfen ihn, wo wir können, wann wir können, mit welchen Mitteln wir können. Wir sind Landesverräter. Aber wir verraten einen Staat, den wir verneinen, zugunsten eines Landes, das wir lieben, für den Frieden und für unser wirkliches Vaterland: Europa“ zitierte Jürgen Rose Tucholsky.
Abschließend versuchte Jürgen Rose eine Antwort auf die Frage zu geben, was von den Forderungen, Vorschlägen, Appellen, Mahnungen der beiden Militärkritiker und -reformer heutzutage als verwirklicht gelten darf. Seine Antwort: „Einiges ja, vieles nicht und insgesamt zu wenig.“ Er beklagte insbesondere den dreifachen Sündenfall gegen die Idee einer Friedenarmee nämlich 1999 bei der Beteiligung Deutschlands am Luftkrieg gegen Jugoslawien, erneut 2001 im Zuge der Invasion in Afghanistan sowie 2003, als die Bundeswehr das völkerrechtliche nicht gedeckte Vorgehen der USA und ihrer Alliierten gegen den Irak unterstützte.
Ein weiteres gravierendes Manko, so Jürgen Rose, betreffe die bis jetzt ungenutzte Chance zur inneren Demokratisierung der Bundeswehr.
Am Ende seiner Analyse stellte Jürgen Rose fest, „daß Tucholsky zwar richtungsweisende und partiell durchaus revolutionäre Ideen und Vorschläge zu einer Militärreform zu liefern vermochte, diesbezüglich indes nie eine konsistente und umfassende Konzeption vorgelegt hat.“ Tuchos Denkansätze spiegeln sich nach Meinung von Jürgen Rose in der späteren Militärreform Baudissins wider, auch wenn sich in dessen Schriften keine Hinweise hierfür nachweisen lassen – der Name Kurt Tucholskys taucht jedenfalls (in Baudissins) umfänglichen Schriftensammlungen „… nicht auf.“
Veröffentlicht von mwengelke am Samstag, Mai 12th, 2018 @ 7:23PM
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